Aikido ist kein Kampfsport und schon gar keine bloße „Sportart“. Dieser Gedanke ist mir nach gerade einmal 1,5 Jahren ziemlich regelmäßigen Trainings auf dem Weg des harmonischen Ki gekommen.
Dass Aikido keine typische „Sportart“ ist, war mir allerdings schon von Anfang an klar, denn seit der Grundschule war mein absoluter Nemesis der Sportunterricht und jegliche Aktivität, die sich damit vergleichen lässt. Noch nie hatte ich einen Sinn darin gesehen, seltsame Bewegungen zu nervtötender Musik auszuführen oder auf Befehl einer pädagogisch ausgebildeten Obrigkeit Stöcke zu apportieren oder Bälle zu werfen; ganz zu schweigen von meiner, zugegeben äußerst übertriebenen, Angst vor Verletzungen. Ich kann diese vergleichsweise hirnlose Art von Sport noch immer nicht ausstehen, auch wenn alle Welt sie als gesund und erstrebenswert anpreist.
Warum aber freue ich mich Woche für Woche darauf, seltsame Bewegungen auf Matten auszuführen und auf Zuruf einer mit schwarzem Hakama ausgestatteten Obrigkeit einen Stab in die Hand zu nehmen oder meine Uke zu werfen? Die Antwort liegt eben darin, dass Aikido keine „Sportart“ im herkömmlichen Sinne ist. Für manche mag es vielleicht dennoch so sein: Sie sehen und erleben Aikido als eine ebensolche und erfreuen sich an körperlicher Ertüchtigung und an ein paar Spielchen. Wenn es diesen Menschen zur Freude gereicht, Aikido so anzusehen, will ich sie keineswegs desillusionieren oder belehren, jedoch entgeht ihnen ein wichtiger Teil des Weges des harmonischen Ki, wenn sie das Folgende nicht erkennen: Aikido ist keine bloße „Sportart“ zur Bewegung und Gesunderhaltung des Körpers, sondern auch – und nach meinem Empfinden eigentlich hauptsächlich! – eine moderne Schule des positiven Denkens.
Was nützt es einem, die Bewegungsfolge dieser oder jener Technik genau zu kennen, wenn der Geist dabei mit eben diesen Bewegungen belastet und somit verschlossen bleibt?! Wer den Weg des harmonischen Ki geht, der wandelt auf dem uralten und edlen Pfad der Kontrolle des Selbst. Niemand, egal welchen Kyu- oder Dan-Grad er oder sie besitzt, kann die Gedanken und Handlungen eines anderen Menschen kontrollieren. Daher wird übrigens auch von vielen Meistern weniger von Kontrolle, sondern mehr von Führung gesprochen. Jeder, egal welchen Kyu- oder Dan-Grad er oder sie besitzt, kann aber die Gedanken und Handlungen seines Selbst kontrollieren. Schließlich gibt es in der Gedankenwelt jedes Einzelnen nur das Selbst dieser Person als herrschende Instanz, die bestimmt, welcher Gedanke gerade verfolgt wird. Bei genau diesem Punkt setzt Aikido als Kunst, Körper und Geist zu vereinen, an.
Selbstverständlich habe auch ich schon die Erfahrung gemacht, dass ein Übermaß an Gedanken den Fluss der Bewegung oder gar ein ganzes Randori zerstört. Wie soll man sich denn auch auf Uke ausrichten, wenn man selbst in seinen Gedanken gefangen ist? Doch darum geht es bei der Gedankenschulung, die sich auf dem Weg des harmonischen Ki vollzieht, nicht. Es ist, wie so oft auf diesem Weg, weitaus einfacher als es sich der Schüler vorzustellen getraut.
Ich hatte zu Anfang meines Lebens als Aikidoka immense Probleme im Training, da ich nicht nur unendlich ängstlich und zurückhaltend war, sondern auch das wohl miserabelste Selbstbewusstsein des Universums hatte. In meiner Ängstlichkeit versuchte ich krampfhaft, meine Uke zu kontrollieren, was natürlich ganz dem Weg der Harmonie widersprach. Sobald ich jedoch erkannt hatte, dass ich andere nicht ändern oder kontrollieren konnte, machte ich plötzliche rasante Fortschritte.
Es war tatsächlich, wie so oft auf diesem Weg, weitaus einfacher als ich es mir vorzustellen getraut hatte. Kurz gesagt, der Fehler hatte darin bestanden, dass ich die Reihenfolge des Vorgehens vertauscht hatte. Die sinnvolle, korrekte Reihenfolge wäre gewesen: zuerst aktiv Kontrolle über mich und meine Gedanken (die ich nun rückblickend als äußerst absurd belächle) zu erlangen, als Nächstes positive Gedanken entstehen zu lassen und letztendlich den Angreifer mit der Kraft dieses positiven Ki zu führen.
Worte genügen nicht, um dieses Gefühl und diesen Prozess zu verdeutlichen. Daher ist Aikido eben mehr als eine herkömmliche Sportart. Gewiss fühlen typische Sportler bei der Ausübung ihrer Lieblingsbeschäftigung auch so etwas wie Freude oder gar Euphorie. Das Gefühl, welches bei der oben beschriebenen Art, den Weg des harmonischen Ki auszuführen, entsteht, übersteigt jedoch alles, was die kaltblütige Wissenschaft auf Basis von Hormonen und Zellaktivität zu erklären gedenkt.
Sport ist Aikido meiner Ansicht nach also ganz gewiss nicht. Als „Kampf-Sport“ würde ich den Weg, den uns Ueshiba-Sensei gewiesen hat, ebenso wenig bezeichnen. Schließlich besteht der größte Kampf darin, gegen sich selbst und seine eigene negative Gedankenwelt zu bestehen. Ist Aikido also letztendlich ein „Denk“-Sport?!
Jenifer Doerrich,
Aikido Bretten (eine Tochter des BBC Bruchsal)